Fundstücke Putzmacherei und Putzmacherin

Die Modistin – Humoreske von 1841

Titelblatt "La Modiste" von Maria d'Anspach, erschienen in "Les français peints par eux-mêmes : encyclopédie morale du dix-neuvième siècle" Band 3, 1841
Titelblatt „La Modiste“ von Maria d’Anspach, erschienen in „Les français peints par eux-mêmes : encyclopédie morale du dix-neuvième siècle“ Band 3, 1841

Über Maria d’Anspach gibt es kaum Informationen. Die von ihr bekannten Werke stammen alle aus den 1840er Jahren, so auch „La Modiste“, die hier natürlich primär interessiert. Wir kennen von d’Anspach noch einige ähnliche kurze Texte wie „La Religieuse“ (1840), „Une Conversion“ (1840), „Les Musiciens ambulants“ (1840), „Un marriage en partie double“ (1843), „Vincenza“ (1844), und schließlich den Roman „Falstel“ (1845). Das war es dann auch.

Nun war es im 19. Jahrhundert nicht selten, dass gerade Frauen sich ein oder mehrere Pseudonyme für die Veröffentlichung ihrer Werke zulegten. Das scheint auch hier der Fall gewesen zu sein. In dem etwas reißerisch betitelten Werk „Les supercheries littéraires dévoilées“ eröffnet uns Joseph Marie Quérard 1847, dass es sich bei Maria d’Anspach um Julie Bordier handelt, verehelicht als Madame Delacroix, eine ehemalige Modistin. Sic! Ob sie etwas mit der Familie des Malers Delacroix zu tun hatte (der Maler Eugène Delacroix war ja unverheiratet geblieben), kann ich nicht feststellen. Zur Familie Bordier ist die Information zu finden, dass sie mit der Familie Flaubert in Rouen bekannt gewesen sei. Auch hier sind die weiteren Verhältnisse unklar. Immerhin dürfen wir nun davon ausgehen, dass in ihrem Text zur „Modiste“ auch persönliche Erfahrungen verarbeitet sind, sodass einige ihrer Ansichten und Beobachtungen einen realen Kern haben könnten.

Titelseite von "Les supercheries littéraires dévoilées : galerie des écrivains français de toute l'Europe qui se sont déguisés sous des anagrammes, des astéronymes, des cryptonymes, des initialismes, des noms littéraires, des pseudonymes facétieux ou bizarres", von Joseph-Marie Quérard 1847
Titelseite von „Les supercheries littéraires dévoilées: galerie des écrivains français de toute l’Europe qui se sont déguisés sous des anagrammes, des astéronymes, des cryptonymes, des initialismes, des noms littéraires, des pseudonymes facétieux ou bizarres“, von Joseph-Marie Quérard 1847

La Modiste – hier wieder einmal übersetzt mit „Die Putzmacherin“ – erschien 1842 im dritten Band der Sammlung „Les Français peints par eux-mêmes“. Diese Sammlung umfasste kurze Porträts von knapp 300 Charakteren und Typen, die ein weites Spektrum der zeitgenössischen Welt widerspiegeln. Darunter waren z.B. der Arzt, der Advokat, der Rentier, die Nonne … und eben auch die Modistin. Das gesamte Werk umfasste stattliche acht Bände, von denen die ersten fünf Paris gewidmet waren und drei der französischen Provinz. Außerdem gab es noch einen zusätzlichen Band („Prismes“), der den Subskribenten vorbehalten war. Die Sammlung erschien sehr schnell zwischen 1840 und 1842; es gab viele Nach- und Neuauflagen, wohl nicht zuletzt wegen der Vielzahl berühmter Autor*innen (z.B. Honoré de Balzac, Théophile Gautier, Gérard de Nerval) und Illustrator*innen (wie Honoré Daumier, Paul Gavarni und Grandville).

Titelblatt von "Les français peints par eux-mêmes : encyclopédie morale du dix-neuvième siècle" Band 3, 1841
Titelblatt von „Les français peints par eux-mêmes : encyclopédie morale du dix-neuvième siècle“ Band 3, 1841

So manche Typen sind mehr oder weniger liebevoll satirisch überzeichnet, bei vielen hat man aber auch den Eindruck, dass die Realität der Verhältnisse sichtbar wird. An manchen Stellen hat man den Eindruck, dass es sich um eine Orientierungs-, eine Identifikationshilfe für die vielen unterschiedlichen Personen und Erscheinungsformen im primär städtischen Kontext handelt. Die Leserschaft des Werkes konnte sicherlich Teile des eigenen Lebensumfeldes erkennen, und die Darstellung anderer Lebensumstände gewann dadurch an Glaubwürdigkeit. Die teils satirisch Darstellung machte es möglich, sich einerseits zu identifizieren, zum anderen aber auch ironische Distanz zu wahren.

Bei der „Modistin“ beobachtet und begleitet man eine Modistin bei ihrem Weg zu ihrer Arbeitsstelle.

“ Si … vous voyez passer une jeune fille à la tournure dégagée et libre, qui marche vite, est mise avec plus de coquetterie que de bon goût, jette un coup d’oeil curieux sur tout ce qui l’entoure, et prête, chemin faisant, l’oreille aux galants propos des jeunes gens qui la suivent ou s’arrêtent sur son passage ; – c’est la modiste.“

Maria d’Anspach, La Modiste 1840, S. 105
Unterwegs, in "La Modiste" von Maria d'Anspach, erschienen in "Les français peints par eux-mêmes : encyclopédie morale du dix-neuvième siècle" Band 3, 1841
Unterwegs, in „La Modiste“ von Maria d’Anspach, erschienen in „Les français peints par eux-mêmes : encyclopédie morale du dix-neuvième siècle“ Band 3, 1841

Die Putzmacherin wird hier als junges Mädchen beschrieben, aufgeweckt und mit mehr Koketterie als Geschmack. Ihr Weg führt sie in das „Magasin“, hier von mir übersetzt als Modesalon, einem Mittelding zwischen Verkaufsladen und Herstellungsatelier. Dort sind schon die Verkaufsassistentinnen dabei, das Schaufenster zu dekorieren – mit Hüten frisch aus der Werkstatt, vorne die Schaustücke und hinten die Hüte aus der gestrigen Produktion. Die Augen der Konkurrenz, die die besten Hüte kopieren will und wird, sollen natürlich in die Irre geführt werden …

Das junge Mädchen – jetzt als Mademoiselle Julia auch als Person wahrgenommen – wird nun detaillierter vorgestellt:

„Elle est frisée comme une femme qui va au bal, porte une robe de soie rayée, un cachemire français, des bottines vernies et des gants noirs. Elle est à la fois en négligé et en toilette. Sa robe est faite en peignoir, et son cou s’entoure d’une chaîne d’or d’une grosseur remarquable ; son col garni de dentelle est fixé sur sa poitrine par une énorme broche à laquelle est attachée une seconde petite chaîne qui suspend une cassolette.“

Maria d’Anspach, La Modiste 1840, S. 106

Julia begibt sich in das eigentliche Atelier, wo 12-15 Personen arbeiten. Zunächst sind da die Lehrlinge, die der „Ersten Arbeiterin“ und deren Vertretung, der „Zweiten Arbeiterin“, zuarbeiten. Außerdem gibt es noch die Austrägerinnen, die mit Hutschachteln beladen die Ware zu den Kundinnen bringen. Im Atelier wird geschwatzt, bis die Arbeit beginnt; alle sitzen an einem großen Tisch, an dem „die Erste“ präsidiert.

Im Atelier, in "La Modiste" von Maria d'Anspach, erschienen in "Les français peints par eux-mêmes : encyclopédie morale du dix-neuvième siècle" Band 3, 1841
Im Atelier, in „La Modiste“ von Maria d’Anspach, erschienen in „Les français peints par eux-mêmes : encyclopédie morale du dix-neuvième siècle“ Band 3, 1841

Maria d’Anspach beschreibt nun die erste Arbeiterin, „la moins jeune et la plus prétentieuse“, also die älteste und eingebildetste der Werkstatt, die sich als Künstlerin versteht – und dabei ihre Arbeit liebt, den Umgang mit schönen Materialien, die Beratung der Kundinnen, die Herrschaft über das Atelier. Ihr (Jahres-)Gehalt – das vergisst die Autorin nicht zu erwähnen – kann zwischen 800 und 5000 Francs betragen, während Julia 30 Francs pro Monat erhält.

Während der Mittagspause sinniert eines der Mädchen darüber, dass der Weg zur Inhaberin eines Modesalons doch oft nach bestimmten Regeln ablaufe. Viele begannen wohl ihre Karriere als hübsche, ruhige Arbeiterinnen in einem Modeatelier und heirateten dann zu gegebener Zeit einen wohlhabenden Mann – der ihnen zu ihrem Zeitvertreib einen Modesalon einrichtete. Die frischgebackene Ehefrau und Geschäftsinhaberin inszeniert sie sich in der Folge als grande dame, ergibt sich hauptsächlich ihren Repräsentationspflichten und überläßt das Geschäft weitgehend der Ersten Arbeiterin. Um ihren Modesalon kümmert sie sich nur sporadisch, und wenn, dann weniger aus geschäftlichen denn aus mütterlichen Gefühlen ihren „Mädchen“ gegenüber. Ehre und Anstand ihrer Beschäftigten sind ihr wichtig und Bestandteile ihres guten Rufes.

Das Geld, so d’Anspach, spielt im Leben der Modistin eine ebenso große Rolle wie die Mode. Sie fürchtet sich vor der Armut auch dann noch, wenn sie ein eigenes Atelier besitzt und im Luxus lebt. Man kann durchaus Mitleid mit ihr haben; was ist schon, aus moralischer Sicht, eine Modistin?

„Qu’est-ce, en effet, sous le point de vue moral, que la modiste ? une pauvre fille éloignée de sa famille, quand toutefois elle en a une ; ou bien une jeune orpheline trop bien élevée pour être une simple ouvrière, et trop peu instruite pour devenir une sous-maîtresse ; ou enfin quelque fille d’artisan, dont la dureté la rebute, et dont la grossièreté contraste péniblement avec l’élégance et la politesse des personnes avec lesquelles ses occupations la mettent en rapport journellement. Dites donc à la pauvre enfant de brider son imagination, d’étouffer ses désirs et d’éteindre les bouffées d’ambition qui lui montent au coeur à la vue des riens éblouissants qu’elle façonne elle-même, et qui resplendissent à ses yeux tout le long du jour.“

Maria d’Anspach, La Modiste 1840, S. 110

Die typische Herkunft der Modistinnen wird recht pessimistisch beschrieben – von der Familie entfremdet, Waisenkind, Handwerkertochter, und dann halt so reingerutscht, wie d’Anspach weiter ausführt. Putzmacherei, das ist in ihren Augen kein Beruf, aber eine gute Möglichlichkeit, sein Glück zu suchen:

„Ce n’est pas une profession, un état, comme disent les grands parents et les négociants ; mais c’est une position assez avantageuse pour attendre, pour épier la fortune et la saisir au passage.“

Maria d’Anspach, La Modiste 1840, S. 110

Zum Ende ihres Textes greift die Autorin einen Begriff auf, dem Honoré de Balzac im ersten Band von „Les Français peints par eux-mêmes“ ein eigenes Kapitel gewidmet hat: „La Femme comme il faut“. Comme il faut, wie es sich gehört – alles so zu tun, sich so zu verhalten, wie es sich ziemt, wie es gerade angesagt ist, das ist das Ziel und Bestreben der Modistin.

Abzugrenzen ist die Modistin noch von der Grisette, der ebenfalls ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Sie ist im studentischen Milieu, bei den Künstlern zu verorten, wo sie den Haushalt managt und auch irgendeiner weiteren Arbeit nachgeht. Es ist eine andere Gesellschaftsklasse, ein anderer Lebensentwurf; Grisette und Modiste teilen aber manchmal das etwas frivole, modische Auftreten.

Am Ende des Tages beendet die „Erste Arbeiterin“ um zehn Uhr die Arbeit, und sowohl Julia wie auch ihre Mitstreiterinnen kommen nach Hause – zur Familie, ins kleine Kämmerchen, in ein herrschaftliches Haus. Ihr weiterer Weg ist nicht vorherzusagen, und d’Anspach beendet ihre Humoreske in sehr melancholischer Stimmung.

Maria Scaniglia hat den Text sehr schön eingelesen, und ich habe die Audiodatei hier einmal als Link eingefügt. Sie wird „Apprentie comédienne/Conservatoire d’art dramatique de Marseille“ vorgestellt, und hat noch weitere Texte des 19. Jahrhunderts als audiobücher im Netz eingestellt. Sehr empfehlenswert!

Den Text selbst habe ich hier zum Download bereitgestellt:

Literarische Bearbeitungen der Putzmacherei:

© Copyright Anno Stockem 2024

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