Fundstücke Putzmacherei und Putzmacherin

Die Verführung einer Modistin – eine Chansonnette

Der Titel der Chansonnette „Quand j’suis une modiste“ ist mehrdeutig – je suis heißt „ich bin“ ebenso wie „ich folge“. Hier wechseln beide Varianten ständig, Thema ist aber die zweite Variante: Im Chanson erzählt ein Mann von seinem Versuch, eine Modistin zu verführen. Das Titelbild des Textblattes zeigt die Situation: Eine junge Frau mit Hutschachtel wird von einem wohl älteren bärtigen Mann verfolgt, der seinen Stock schwenkt. Aus heutiger Perspektive keine Geschichte, die man gerne hören oder lesen möchte; solchen Verführungen haftet stets etwas klebrig-ekliges an. Älterer Mann verführt junges Mädchen – Nein, bitte nicht!

Nun treffen wir hier auf ein Klischee, das Ende des 19. Jahrhunderts nicht selten war. Junge Modistinnen wurden insbesondere zu Beginn ihrer Ausbildung oft für die Auslieferung fertiger Hüte losgeschickt, waren also im Straßenbild sichtbar und als Modistin erkennbar. Im Beruf arbeiteten sie mit feinen Stoffen, waren oft modeinteressiert und modisch gekleidet, ohne allerdings viel Geld zu haben. In der Regel waren sie überdies unverheiratet – und scheinen so für viele Männer im prüden 19. Jahrhundert als leichte Beute gegolten zu haben.

Ausschnitt des Gemäldes "La Modiste Sur Les Champs Elysees" von Jean Béraud
Ausschnitt des Gemäldes „La Modiste Sur Les Champs Elysees“ von Jean Béraud

Allerdings geht hier die Geschichte doch noch etwas anders aus als gedacht. Der „Erzähler“ versucht offensichtlich, eine Modistin zu erobern. Sein Selbstbewusstsein ist enorm, wie im Refrain deutlich wird (freie Übersetzung durch mich:) „Wenn ich einer Modistin folge, kann mich nichts aufhalten. Ich bin ständig um sie herum, schau vor und zurück, und dann sag ich zu ihr: Meine Hübsche, sei nicht so grausam! Du wirst sehen, mein Kätzchen, dass es dir nicht leidtun wird.“

In Strophe zwei gehts dann in ein Cabaret, in der dritten in ein teures Restaurant, danach noch ins Theater… Und dann lädt er sie nach Hause in seine Junggesellenwohnung ein.

Diese Wohnung ist bezeichnender Weise in einem damals etwas heruntergekommenen Künstlerviertel und im siebten Stock, wo sich eigentlich nur die Dienstbotenzimmerchen („Chambre de Bonne“) befanden. Tja, und dann – wird er „von einem plötzlichen Unwohlsein“ befallen und kann ihr nicht mehr zeigen, „wie man sich amüsiert“. Frei übersetzt: „Kann man nichts machen, morgen ist auch noch ein Tag.“ Da ist die Geschichte doch noch einigermaßen erträglich ausgegangen, der großspurige Verführer hat sein Ziel nicht erreicht, und die Modistin wenigstens ein gutes Essen und einen Theaterbesuch genossen.

Chanson "Quand j'suis une modiste", Seite 1
Chanson „Quand j’suis une modiste“, Seite 1, mit der ersten Strophe und dem Refrain
Chanson "Quand j'suis une modiste", Seite 2
Chanson „Quand j’suis une modiste“, Seite 2, mit den Strophen zwei bis fünf

Der Chanson – bzw. die Chansonnette – stammt von „Morel“ vom Alcazar d’Été, eine Art Café mit leichter musikalischer Unterhaltung; der Alcazar d’Été war eines der bekanntesten Etablissements dieser Art und existierte bis 1914.

Werbe-Plakat für den Alcazar d'Été
Werbe-Plakat für den Alcazar d’Été

Einer der beiden Autoren war Paul Émile Gabriel Briollet, ein sehr produktiver Komponist und Autor; bei dem anderen handelte es sich um Félix Mortreuil, einen französischen Texter und Chanconnier. Die Musik stammte von „Del„, gestorben 1899, und Eugène Poncin, der laut Wikipedia als Bariton in der Operette und der komischen Oper sang und in Paris für das Café-Concert Melodien arrangierte oder komponierte, die dann oft unter dem Namen anderer bekannterer Künstler veröffentlicht wurden.

Jetzt passt es: „Quand j’suis une modiste“ als komischer kleiner Chanson, in dem der lüsterne Junggeselle letztendlich mit seiner großspurigen Art scheitert. Das Ganze gesungen von einem (schmalzigen) Bariton, an einem Nachmittag im Café.-

© Copyright Anno Stockem 2024

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