Brockhaus, Meyer, Herder – viele kennen heute noch die drei großen Lexikon-Verlage, die im 19. Jahrhundert begründet wurden und im 20. Jahrhundert wieder weitestgehend verschwanden. Ein viertes Lexikon des 19. Jahrhunderts war das von Heinrich August Pierer erstmalig zwischen 1824 und 1836 herausgegebene „“Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe„. Am ersten Band war noch als weiterer Herausgeber August Daniel (von) Binzer beteiligt. Das „Wörterbuch“ wurde ab der zweiten Auflage zum „Universal-Lexikon“ und ab der sechsten Auflage zum „Universal-Conversations-Lexikon“. 1888-1893 erschien dann die letzte, siebte Auflage.
Pierer selbst schrieb 1824 zu seinem Werk:
„Die dem neuen encyclopädischen Wörterbuche zu Grunde liegende Idee ist:
Encyclopädisches Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und Gewerbe, Bd. 1, 1824, S. IV
über jeden bemerkenswerthen Gegenstand menschlichen Wissens eine kurze, jedoch für einen momentanen Bedarf möglichst befriedigende Nachweisung zu geben.
Es sollen daher nicht nur alle Wissenschaften und Künste, nebst ihren Abtheilungen, eigne, ihren Umfang, ihre allmählige Ausbildung und ihren jetzigen Standpunkt andeutende Artikel erhalten, sondern es soll auch alles, was, unter ihnen befaßt, der Erkenntniß sich als besondern Gegenstand, als Verstandesbegriff, oder in sinnlicher Wahrnehmung darbietet, zur Betrachtung gezogen, und seinen wesentlichen Bestimmungen nach mit kurzen Worten bemerkt werden; alle Kunstausdrücke , sowohl teutsche, als aus fremden Sprachen entlehnte, sollen Erklärungen erhalten, alle Erfindungen und Producte des menschlichen Fleißes beschrieben, alle Verhältnisse des gemeinen Lebens, in Bezug auf das Interessante, das sie der wissensschaftlichen Bestrachtung darbieten, und mit Hervorhebung des weniger Bekannten berührt werden.“
Was aber ist nun bei Pierer zur Putzmacherin zu finden? Zunächst nicht viel mehr als eine kurze Erläuterung:
„Putzmacherin, eine weibliche Person, welche vorzüglich Kopfputz für Frauenzimmer und feines Weißzeug verfertiget“
Encyclopädisches Wörterbuch (1832), Band 17, S. 279
Was aber versteht denn Pierer nun schon wieder unter „Kopfputz“?
„Kopf-putz, Alles, was die Menschen theils zur Nothwendigkeit, theils zur Zierde (Kopfzierrath) auf und an dem Haupte tragen. Hierzu gehören, außer der Haar- und der Ohrverzierung (s.d.), die verschiedenen Bedeckungen des Hauptes, welche unter den einzelnen Artikeln zu ersehen sind, wie Zaniph, Miznepheth, Tulband, Turban, Kidaris, Schleier, Mütze, Toque, Diadem, Hut, Krone (s.d.A.) u.v.a. (Sch.)“
Encyclopädisches Wörterbuch (1829), Bd. 11, S. 548
Die Auswahl der Kopfbedeckungen ist nun aber doch erstaunlich, und etliche musste ich selbst nachschlagen. Wenn man genau hinschaut, findet man am Ende des Eintrags das Kürzel „(Sch)“. Dies verweist auf den Autor des Artikels; die Autoren (Pierer schreibt „die Herren Autoren“, Frauen waren offensichtlich nicht dabei) wurden nämlich von Pierer explizit genannt. Das Kürzel „Sch“ steht für „Schneider, Professor am Gymnasium in Altenburg: Archäologie, alte Literatur, alte Geographie, alte Geschichte, alte Sprachen, Mythologie u.m.a.“ (Pierer (1824), Bd. 1, S. XX). In einer späteren Ausgabe des Universal-Öexicons wird noch ergänzt: „bei der Redaction der 1. Auflage bis zum P beschäftigt; griechische und lateinische Sprache, Philosophie, alte Geschichte, alte Geographie, Antiquitäten, Mythologie, Aestethik, Belletristik, Biographien und viele andere Artikel“.
So klärt sich die ungewöhnliche Auswahl der Kopfbedeckungen vermutlich durch den historischen Hintergrund des Professors, der sich wohl in der alten Geschichte und der antiken Kultur besser auskannte als in der aktuellen Mode bzw. ihren Produzent*innen. Das Fachgebiet „Ästethik“ wurde denn ja auch erst in der späteren Ausgabe hinzugefügt. Professor Schneider nennt zunächst zwei jüdische Kopfbedeckungen, dann eine türkische Bezeichnung für den Turban, dann den Turban, dann wiederum eine jüdische Kopfbedeckung und erst danach mit Schleier, Mütze, Toque und Hut Objekte, die am ehesten von einer Putzmacherin herzustellen waren. Diadem und Krone sind in einem Beitrag über Kopfputz auch verständlich.
Pierers „Wörterbuch“ setzte Standards, und es war wenig überraschend, dass es auch kopiert wurde. Namentlich Meyer’s Conversations-Lexicon (1840-1852) übernahm den Artikel fast wörtlich – inklusive der Nennung exakt derselben Kopfbedeckungen. So verbreitete sich das doch eher altphilologisch geprägte Wissen eines Altenburger Gymnasialprofessors!
Hier noch endlich die Erläuterungen aus dem Encyclopädischen Wörterbuch:
- „Zaniph (Zniph, jüd. Ant.), Kopfbedeckung der Hebräer, bestehend in einem großen Stück Tuch, welches öfter um den Kopf gewunden wurde und daher Aehnlichkeit mit einem Turban bekam. Beide Geschlechter trugen diese Kopfbedeckung, nur daß sie bei den Weibern schmäler war und die Stirne weniger bedeckte. Vgl. Miznepheth unter Hoher Priester (Lb.)“ (Band 26, 1836, S. 491).
Auch den Autor dieses Eintrages finden wir natürlich: „Löbe, D. und Pfarrer in Rasephas bei Altenburg (2. Mitredacteur der 1. und 2. Auflage; lateinische und griechische Sprache, Literatur, alte und neue Geschichte, alte Geographie, Antiquitäten, Aesthetik, Rhetorik, Politik, Mythologie aller Völker, Biographien u.m.a.).“
- „Miznepheth (hebr. Ant.), s. unter Hoher Priester“ (Band 13, 1830, S. 705). Das bringt uns nicht wirklich weiter, also auf zum Eintrag „Hoher Priester“.
Der Eintrag (Band 9, 1828, S. 571-573) ist relativ lang. Bei der Beschreibung der Einweihungsfeierlichkeiten für das Amt wird auch das Anlegen der heiligen Kleider geschildert, u.a. „eines Hutes (Miznephet) aus feiner Leinwand (2. Moses 28, 39. 40), doch höher und breiter als bei den übrigen Priestern“.
Hier wird Miznepeth ohne das abschließende „h“ geschrieben. Nun ja, Schreibvarianten gab es verschiedene. Verfasst hat den Artikel – wenn wir schon mal dabei sind – „Wth“, das ist „Wohlfarth, D., Schwarzb.-Rudolst. Kirchenrath und Pfarrer in Kircgbasel bei Rudolstadt“. Besondere Fachgebiete waren ihm offensichtlich nicht zugeordnet, vielleicht reichte ja auch die Berufsbezeichnung.
- Tulband: zu finden ist nur „Tulbend (Dulbend), so v. W. Turban.“ (Band 24, 1835, S. 259). Wie passend, der Turban steht ja auch auf der Liste. Aber warum dann die gesonderte Nennung bei der Aufzählung?
- „Turban (v. türk.), 1) (Dulbend, Tulbend, Türkenbund, türk. Sitten), der Kopfputz, den ehedem alle nur einigermaßen wohlhabende Türken trugen, bestand aus einem langen Stück Muselin, Seidenzeuge oder Leinwand, das um eine meist cylindrische, aber auch halbkugelförmige Mütze gewunden und an dieselbe festgesteckt wurde. Meist war die Mütze selbst roth, das darum gewundene Zeug aber weiß. Durch die Farbe und die daran angebrachten Zierrathen unterschieden sich die Stände. So hatte der türkische Kaiser 3 mit Brillanten reich verzierte Reiherbüsche auf seinem T. und dieser T. wurde so in Ehren gehalten, daß man ihn kaum zu berühren wagte, ein besonderer Beamter (Tulbend Aga) verwahrte ihn, der Großwesir hatte 2, die andern hohen Beamten, Paschas u. dgl. 1 Reiherbusch auf ihren T.s; die der Abkömmlinge Muhammeds (Emirs) waren ausschließlich grün u.s.w. Auch die Juden, Christen und andere trugen T.s, jedoch von anderer Farbe, blau, gelb u. dgl. Jetzt ist der T. durch Gesetz Mahmuds II. bei allen Staatsbeamten abgeschafft u. durch den griechischen Fes, ein rothes Käppchen mit einer großen blauseidenen Quaste in der Mitte, ersetzt worden. Nur Nichtbeamtete tragen noch den T. 2) (Waarenk.) ein weiß und blau gestreiftes Baumwollenzeiug, welches aus Ost-Indien kommt. (Pr.)“ (Band 24, 1835, S. 274) Das war doch mal ausführlich – vielleicht kein Wunder, der Autor „Pr“ ist Herr Pierer persönlich.
- „Kidaris (Ant), 1) s. unter Kidaria 2) so v.w. Cidaris“ (Band 11, 1829, S. 258) Bei Kidaria werden kommen wir hier nicht weiter; das war der Beiname der Demeter, und unter dem Stichwort ist zum Kopfputz nichts zu finden. Aber Cidaris ist hilfreicher:
„Cidaris (lat., griech. Kidaris, hebr. Kether), 1) der königl. Hauptschmuck, der Hut oder Turban der persischen Könige. 2) Durch dieses Wort übersetzt Hieronymus das hebräische (…) (Miznephat), welches der Hauptschmuck, die Kopfbedeckung des jüdischen Hohenpriesters war.“ (Band 5, 1825, S. 339).
Also ist Kidaris dasselbe wie Miznephat? Und Talband dasselbe wie Turban? Aber der Kidaris wird auch als Hut oder Turban bezeichnet? Hm. Jetzt wissen wir also mehr.
Glücklicher Weise musste sich eine Putzmacherin mit solchen Unterschieden nicht befassen. Sie verfertigte zwar Kopfputz – aber „vorzüglich für Frauenzimmer“. Das bedeutet, dass sie bestenfalls Zaniph, Schleier, Mütze, Toque und Hut anfertigte. Von Diadem und Krone sehen wir hier einmal ab, und die beschriebenen Turbane waren auch nur für die Männer gedacht.
In der zweiten Auflage des Pierer (1840-1846) wird in Band 16, S. 358 die Auswahl übrigens nochmal von Professor Schneider verändert. Jetzt nennt er nur noch „Zaniph, Miznepheth, Turban, Schleier, Kidaris, Mütze, Toque, Diadem, Hut, Krone, Fes, Haube, Kränze u.v.a.“. Auf den Tulband verzichtet er, führt aber u.a. den Fes, Haube und Kränze neu ein. Die habe ich jetzt aber nicht mehr nachgeschlagen. Meyer verzichtet in der Ausgabe von 1857-1860 komplett auf den Artikel zum Kopfputz. Vielleicht war’s besser so.
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