In einem Dokument aus dem Jahr 1915 finde ich folgende Information:
„Die Modistin Fräulein Margaretha Kohr zu Siegburg Wellenstraße 44, geboren am 3. April 1879 in Siegburg, war am 1. Oktober 1908 nach den bis dahin geltenden bezüglichen Bestimmungen der Reichsggewerbeordnung zur Anleitung von Lehrlingen in ihrem Handwerk befugt.
Auf ihren Antrag hin wird ihr gemäß Artikel 11 No. 1 des Gesetzes vom 30. Mai 1908 (R. R. Bl. S. 356 ff) diese Befugnis hierdurch weiter verliehen“.
Ausgestellt wurde diese Bescheinigung (die als Vordruck vorlag und offensichtlich häufiger benötigt wurde) von der Polizei-Verwaltung der Stadt Siegburg und unterschrieben vom Bürgermeister persönlich. Auf der zweiten Seite wurde dann noch einmal ausführlich zitiert, wann diese Erlaubnis auch wieder entzogen werden konnte. Ein warnender Fingerzeig, sozusagen:
Interessant ist, dass erst 7 Jahre nach der Gesetzesänderung die Bescheinigung auszufüllen war. Hatte Margaretha Kohr solange keine Lehrlinge ausgebildet (und plante das kurz nach Kriegsbeginn wieder zu tun)? 1915 war sie 36 Jahre alt. Es kann auch sein, dass es sich um eine Erstbescheinigung handelt; ein handschriftlicher Vermerk besagt: „Stempelfrei mangels Vorhandenseins einer Urschrift“.
Was genau waren denn die „bis dahin geltende bezüglichen Bestimmungen der Reichsgewerbeordnung zur Aleitung von Lehrlingen“?
Die bis dato gültige Gewerbeordnung datierte vom 01.07 1883. Vorbild war die „Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund“, die bereits seit 1869 bestanden hatte. §41 regelte die Befugnis zur Lehrlingsausbildung:
§. 41.
Gewerbeordnung vom 01.07.1883, § 41
„Die Befugniß zum selbständigen Betriebe eines stehenden Gewerbes begreift das Recht in sich, in beliebiger Zahl Gesellen, Gehülfen, Arbeiter jeder Art und, soweit die Vorschriften des gegenwärtigen Gesetzes nicht entgegenstehen, Lehrlinge anzunehmen. In der Wahl des Arbeits- und Hülfspersonals finden keine anderen Beschränkungen statt, als die durch das gegenwärtige Gesetz festgestellten“.
Die eigentlichen Lehrlingsverhältnisse sind in Abschnitt III, §126 – 133 geregelt. Voraussetzung für die Lehrlingsausbildung war ein „stehendes Gewerbe“ im Unterschied zum Wandergewerbe.
Wichtig für alle Frauen – und damit für alle Modistinnen und Putzmacherinnen – war u. a. der freie Zugang zum Gewerbe (§ 11):
§ 11
Gewerbeordnung, §11
„Das Geschlecht begründet in Beziehung auf die Befugnis zum selbständigen Betriebe eines Gewerbes keinen Unterschied.
Frauen, welche selbständig ein Gewerbe betreiben, können in Angelegenheiten ihres Gewerbes selbständig Rechtsgeschäfte abschließen und vor Gericht auftreten, gleichviel, ob sie verheirathet oder unverheirathet sind. Sie können sich in Betreff der Geschäfte aus ihrem Gewerbebetriebe auf die in den einzelnen Bundesstaaten bestehenden Rechtswohlthaten der Frauen nicht berufen. Es macht hierbei keinen Unterschied, ob sie das Gewerbe allein oder in Gemeinschaft mit anderen Personen, ob sie dasselbe in eigener Person oder durch einen Stellvertreter betreiben.“
„Auf … Rechtswohltaten nicht berufen“? Eine Erläuterung zur Rechtswohltat finden wir z.B. im Meyers Großes Konversations-Lexikon, Band 16. Leipzig 1908, S. 672-673.:
„Rechtswohltat (lat. Beneficium juris), besondere Rechte, welche die Gesetze Personen gewisser Klassen oder jedem Berechtigten oder Verpflichteten einräumen. Während das römische und das gemeine Recht reich an Rechtswohltaten waren (vgl. Beneficium), hat das Bürgerliche Gesetzbuch hiermit ziemlich aufgeräumt, insonderheit sind die sogen. weiblichen Rechtswohltaten, beneficia muliebria, völlig verschwunden.“
Frauen konnten sich also nicht auf eine Rechtswohltat berufen – das bedeutet, dass die „Belehrung“ über die Folgen ihres Tuns unterbleiben konnten. Diese Belehrung diente „zum Wohle“ der Frauen. Ich zitiere aus einem Beitrag von Susanne Weber-Will; ihre Erläuterung des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 passt auch hier:
„Wollte eine Frau bürgen, so musste sie abgesehen von Schriftform oder gerichtlicher Protokollierung der Bürgschaft vor Gericht ausdrücklich über deren Rechtsfolgen belehrt werden, sonst blieb die Verpflichtung „ohne rechtliche Wirkung“. Dies galt allerdings nicht, wenn die Frau durch Hauptgeschäft oder Bürgschaft Vorteile erlangt hatte, auch konnte sie schon Geleistetes nicht zurückfordern. … Kauffrauen konnten sich im Rahmen ihres Geschäftsbetriebs nicht auf die skizzierten Rechtswohltaten berufen (..).“
Weber-Will, Susanne: Geschlechtsvormundschaft und weibliche Rechtswohltaten im Privatrecht des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794, in: Gerhard, Ute: Frauen in der Geschichte des Rechts“, Verlag C.H. Beck, München 1997, S. 452-459, hier: S. 456
Erstaunlich, was ein so einfach erscheinendes altes Dokument doch für Information in sich birgt – und welche Implikationen dabei eine Rolle spielen!
© Copyright Anno Stockem 2021
Wenn Ihnen der Beitrag gefallen hat, melden Sie sich gerne zum Newsletter von ansto.de an!