Der „Galateus“ von Giovanni Della Casa war das wesentliche Benimmbuch des ausgehenden 16. Jahrhunderts und wurde bis ins 20. Jahrhundert hinein isbesondere in Italien gelesen. Das Buch erschien in 38 Ausgaben allein zwischen 1558 und 1599, und bis 1971 zählte Antonio Santosuosso (Quelle am Ende des Textes) sogar 187 Ausgaben. Aber nun erst einmal der komplette Titel – wobei wir hier auf das erste Problem stoßen. Denn die mir vorliegende Ausgabe von 1609, die ich (einmal mehr) auf dem Flohmarkt gefunden habe, ist mehrsprachig. So ist der Titel, da die Augabe in Genf erschienen ist, zunächst auf Französisch:
„Le Galatee, premierement composé en Italien pa I. de la Case, & depuis mis en François, Latin, Allemand, & Espagnol. Traieté tres utise et tres necessaire ….“
Im folgenden beschränke ich mich auf die Deutschen Texte:
„Ionnis Calae Galateus: Das ist ein Buchlein / in welchen in der person eines altten / so einen iunglingh underricht / gehandelt wird / welche sitten in tegliger conuersation mit andern zu folgt oder zu meiden sind newligh auß Italianischer Sprach verteutschet von Nath. Chytraeo.“
Della Casa, Giovanni: Le Galatee. Geneve 1609, S. 1. Nathan Chyträus war ein norddeutscher Dichter, Theologe und Übersetzer (1543-1598)
Das Inhaltsverzeichnis, das ich hier im Bild widergebe, mag ein Bild der vielen Themen vermitteln, denen sich della Casa in seinem Werk widmet:
Die Textgestaltung erfreut in vielerlei Hinsicht, insbesondere durch die Aufteilung des Layouts und die Differenzierung der unterschiedlichen Sprachen durch unterschiedliche Text-Typen: Fünf verschiedene Schriften wurden sprachspezifisch durchgehend genutzt!
Bei den Übersetzungen griff der Verlag auf bereits Vorhandenes zurück, ich erinnere an die 38 Ausgaben – darunter waren auch mehrere Deutsche. Hier der erste Abschnitt der Einleitung, „Vorrede von dieser leher zweeck“:
„GALATHEUS / DAS IST / DAS büchlein von erbarer Sitten notwendiigkeit / etc.
Dieweil du / lieber Sohn / dich nun erst auff die reise deß menschlichen lebens / von welcher ich / wie du sihest / den mehrern theil allbereit volführet habe / begibest: Als hab ich bey mir beschlossen / inn einem oder zweyen gefährlichen örtern (an welchen ich / als der es versucht / besorge / daß du / dem ich von herzen günstig / leichtlich strauchlen / fallen oder etwa irr gehen möchtest) dieses weges gelegenheit dir zu vermelden. Damit du / also von mir hievon unterrichtet / mit aller wohlfahrt / auch mit lob und ehr deines erbahrn und edelen Geschlechtes / die rechte strasse halte mögest. Und weil deine zarte iugend / höhere unnd subtilere lehre zu begreiffen / noch nit genugsam fähig seyn mag: wil ich mir dasselbe auff gelegenere zeit vorbehalten / und ietzt nur von solchen dingen mit dir anfangen zu reden / die vielleicht von vielen auch wol für gar zu geringe möchten geachtet werden. Als nemlich / was sich / meines erachtens / zu thun und lassen gebüre / damit einer / der mit andern leuten umbzugehn willens ist / für sittsam / lieblich / holdselig und höflich bey ihnen möge angesehen werden.“
Della Casa, Giovanni: Le Galatee. Geneve 1609, S. 2-6
Della Casa, zu dem sich natürlich eine ausführliche Lebensbeschreibung im Netz finden lässt, hatte allerdings interessanter Weise keinen Sohn, sondern zwei Neffen, von denen der eine, Annibale Rucellai, nach dem Tod des Autors die Veröffentlichung des Buches in Auftrag gab. Der Autor selbst hatte eine Veröffentlichung nicht geplant, ja sogar die Vernichtung all seiner Werke nach seinem Tode verfügt, weil er sie nicht für wichtig genug hielt. De la Casa war am Ende seines Lebens tief enttäuscht, dass er weder die von ihm angestrebten Ämter erricht hatte noch angemessen von seinen Zeitgenossen gewürdigt wurde.
Gedacht war sein Buch als Ratgeber für die Erziehung der Oberschicht, insbesondere hochgeborener junger Männer. Darin finden sich auch heute noch hilfreiche Ratschläge. Man möge beim Gähnen keine lauten Geräusche von sich geben, nicht mit vollem Mund reden, sich bei Tisch nicht kratzen, usw. Und das Taschentuch soll man nach dem Gebrauch nicht prüfend anschauen, als ob vielleicht Edesteine aus dem Schädel gefallen wären. Das ist für uns heute sehr vergnüglich zu lesen, und die Mehrsprachigkeit tut ihr übriges dazu:
Es geht um die guten Sitten, im Gespräch und im Umgang mit anderen, um Höflichkeit, gute Ausdrucksweise und den angemessenen Umgang miteinander. Und natürlich sollte man sich auch nicht unziemlich verhalten, was die Kleidung anbelangt:
So sol auch ein jeder allezeit nach gelegenheit seines Standes / unnd alters / wol bekleydet hereiner gehn . Derwegen es auch die bürger zu Padua für ubel auffnamen / wenn etwa ein Venedischer Herr in Ihrer statt im Leibrock umbher gieng / gleich als ob ihn deuchte / er were etwa auff einem Dorff. Auch sollen die kleyder nit allein von gutem tuch seyn : sondern es sol sich auch ein jeder dahin vermögen / daß er sich / so viel immer müglich / nach der weise der andern einwohner deß lands / oder der Statt da er in wohnet / richte . Und sich zu dem gegenwertigen gebrauch allgemächlich lencken lasse : ob gleich die jetzige kleydung nit so bequem / oder nit fo wohlständig fein möchte / wie vielleicht die alte entweder in warheit gewesen ist / oder aber also zuseyn sich hette ansehen lassen . Item / so man bey dir kurze haar trüge / soltu diefelben nicht zu lange wachsen lassen . Item / so andere ire bärte behalten / soltu deinen nit lassen abnemmen . Denn die solches thun / haben das ansehen / als wenn sie sich gegen die andern wolten auffwerffen. Da man doch den leuten inn täglicher gemeinschafft der sitten nicht entgegen seyn sol / ohne allein im fall der notturfft / wie wir baldt hernach sagen wöllen / Denn dieselbige ungleichheit machet uns die leute mehr zuwider / dann alle andere angenommene böse Weise oder Mores .
Derwegen muß man sich in solchem Wandel dem gemeinen gebrauch nicht widersetzen : sondern demselbigen zimlicher weise fügen / auff daß du nit allein & seyest der under denen / bey welche du wohnest / einen langen Leibrock tragest biß auff die fersen herunter hangend / da ihn die andern alle zimlich kurz / und kaum unter die Gürtelstat reichend / tragen. Den wie es einem widerfähret / der so ein uber die mass scheußlich Angesicht hat / daß man nicht anders sagen ka / denn es sey gänzlich wider die gemeine art und natur / daß sich das volck allzumal nach ihm wendet / ihn anzugaffen / also gehet es auch denen / die da gekleydet gehen / nit nach der mehrer leute gewonheit / sondern nach ihrem eignen willen unnd sin: Als die da schöne lange haar tragen / und den bart gar kurtz abschneiden / oder auch wol mit dem scheermesser gantz wegnemmen lassen / oder die da gestrickte hauben auffsetzen / oder tragen sonderliche grosse bareter oder hüte / gleich wie die Schweitzer / daß also ein jeglicher sich umbwendet / sie anzuschauwen: und das ihrenthalben die leute mit hauffen zusamme lauffen / und sie angaffen / als solche leut / die da meynen sie haben den kampff gegen das gantze land / darin sie leben / gewonnen. Auch sollen die kleyder gerecht seyn / unnd demm menschen wohl anstehen / unnd anligen. Denn diejenigen so köstliche unnd prächtige kleyder habe / aber doch so ubel ges macht / daß es sich ansehen lässet / sie seyen nicht ihnen / sondern andern gemacht / geben damit eine dieser zweyer ding anzeigung / daß sie entweder keine gedancken drauff legen wie sie andern zugefallen / unnd nicht zu mißfallen seyn mögen : oder ja nicht verstehen / was da dißfals wohlständig und artig : oder auch ubelständig und nit artig seye . Derwegen erregen solche leut mit dieser ihrer böſen weise inn der leute gemüter / mit denen sie umbgehen / einen argwohn / daß sie ihrer wenig acchten / und seyn derwegen bey der meissten geselschafft nicht sehr angenem / unnd wenig lieb gehalten.
Della Casa, Giovanni: Le Galatee. Geneve 1609, S. 96-108
Nach de la Casa kleide man sich also dergestallt, dass man zwar auf gutes Tuch achte, sich ansonsten aber nach den allgemein üblichen Sitten richtet. Ziel ist es, nicht aufzufallen, bescheiden zu sein, damit man nicht für eitel oder hoffärtig gehalten wird. Modisch war das also äußerste Zurückhaltung, wie wir sie später z.B. beim Typus des englischen Gentleman finden, dessen Kleidung sich durch Unauffäligkeit – bei qualitativer Exzellenz – auszeichnete.
Quellen: Della Casa, Giovanni: Le Galatee. Geneve 1609; Santosuosso, Antonio: Giovanni Della Casa and the Galateo. On life and success in the late italian Renaissance. in: Renaussance and Reformaion, Vorume XI, 1975, Number 1, Seite 1-13
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