Allgemein

Armut und Prekariat: Frauenarbeit 1893

Platz für Gefühlsausbrüche ist eigentlich woanders. Den Bericht über die Frauenarbeit von Lina Morgenstern habe ich aber mit einiger Erschütterung gelesen (Morgenstern, Lina: Frauenarbeit in Deutschland. Verlag der Deutschen Hausfrauenzeitung). Er erschien schon 1893 und liegt glücklicher Weise auch als Digitalisat vor.

Lina Morgenstern: Frauenarbeit in Deutschland, Titelblatt
Lina Morgenstern: Frauenarbeit in Deutschland, Titelblatt

In dem Werk werden die Monats- bzw. Wochenlöhne oder Tageslöhne einer ganzen Anzahl von Berufen genannt. In der folgenden Tabelle habe ich einige davon aufgeführt:

Löhne der Arbeiterinnen in Berlin

ArbeitstätigkeitLohn pro WocheLohn pro Tag
Blumenfabriken3 - 12
Contobücherfabrik Linierin12 - 15
Corsettfabrik Zuschneiden9 - 17
Damenmäntelfabrik9 - 15
Federputzfabrik6 - 21
Garn- und Schnurfabrik7 - 20
Handschuhfabrik6 - 15
Häusliche Putzmacherin2,50 - 4
Häusliche Schneiderin2,50 - 4
Häusliche Waschfrau mit Kost2,50 - 3
Häusliche Ausbesserin0,75 - 1,50
Häusliche Näherin1,50 - 2
Häusliche Tüllstopferin3
Häusliche Plätterin2,50 - 3
Hutfabriken9 - 15
Konfektionsdamen12 - 25
Putzfederfabrik9 - 24
Putzmacherin12 - 20
Stickerin5 - 21
Strohhutfabrik9 - 10
Unterrock und Tricottaillenfabrik7 - 17
Weisswaren-Confection8 - 50
Weissstickerei6 - 12
Directrice im Wäschegeschäft25 - 35

Diese Löhne sind zunächst einmal aufschlussreich, um die „Wertigkeit“ der verschiedenen Berufe untereinander zu vergleichen. Spitzenkraft war die Directrice, die ja bereits leitende Funktionen hatte. Die Putzmacherinnen bewegen sich mit 12 – 20 Mark pro Woche im oberen Rahmen. Sofern sie ins Haus kamen, verdienten sie tendenziell ebensoviel wie als lohnabhängige Arbeiterinnen; dabei vermute ich, dass es sich dabei eher um selbständige Frauen gehandelt haben wird.

Insgesamt erscheint bei vestimentären Berufen eine Größenordnung von ca. 10 Mark / Woche der Durchschnitt gewesen zu sein, wenn man die z.T. beträchtlichen Spannbreiten berücksichtigt. Was bedeutete ein Lohn dieser Höhe?

Dazu wiederum Morgenstern, die ich hier im Wortlaut zitiere:

„Über die Höhe der Haushaltsausgaben liegen für Breslau einige Mitteilungen vor. Nach diesen zahlt die Fabrikarbeiterin für eine Schlafstelle, d.h. ein Zimmer, welches sie mit 1-3 Arbeiterinnen teilt, monatlich 2,50 – 5 Mark und für den Mittagstisch bei den Vermieterinnen 20-30 Pfennige, in den Volksküchen 15-25 Pfennige pro Tag. Legt man Durchschnittszahlen zu Grunde, so ergeben sich etwa folgende Ausgaben pro Woche:

  1. für Wohnung 1,00 Mark
  2. für Mittagessen 1,75 Mark
  3. für Frühstück (Kaffee usw.)
    und
  4. Abendessen 2,25 Mark
  5. Beitrag zur Krankenkasse 0,15 Mark
    In Summe 5,15 Mark

    Zu diesen Ausgaben treten weiterhin solche für
  6. Kleidung (inkl. Wäscheanschaffung) und Beschuhung,
  7. Heizung und Beleuchtung
  8. Gesundheitspflege und
  9. verschiedene leibliche und körperliche Bedürfnisse (Vergnügen usw.)

Die Höhe dieser unter 6-9 aufgeführten Ausgabeposten dürfte wöchentlich etwa 1,35 Mark erreichen und die Gesamtwochenausgabe sich sonach auf mindestens 6,50 Mark belaufen.

Das Gros der Breslauer Arbeiterinnen erzielt indessen nur einen Wochenverdienst von nicht mehr als 6 Mark, ein grosser Teil sogar muss sich mit Wochenlöhnen von 3-5 Mark begnügen. Was also dann, wenn das Arbeitseinkommen nicht hinreicht, die notdürftigsten Ausgaben zu decken?

Vielleicht wird seitens der unverheirateten Arbeiterin, welche in der Regel auf elterliche Unterstützung nicht mehr zu rechnen hat, eine weitere Einschränkung der Ausgabenkategorie „Nahrungsmittel“ versucht; denn, wie der Breslauer Fabrikinspektor berichtet, „leben im Sommer viele niedrig gelohnte Arbeiterinnen die ganze Woche von Brot, Wurst, Hering usw. und essen nur am Sonntag ein ordentlich zubereitetes Gericht“.

Allein diese Einschränkung wird einerseits bei unserer geringen Veranschlagung der Ausgaben für Ernährung überhaupt nicht zu erheblicher Verminderung der Ausgabeposition unseres Budgets führen, andererseits bei der Unfähigkeit eines ungenügend ernährten Menschen, Arbeiten zu verrichten, und bei den hieraus entstehenden Folgen immerhin nur eine vorübergehende sein. Der gering bezahlten Arbeiterin, welche nicht verkümmern oder verhungern will, bleibt häufig nur ein Mittel, ihre materielle Lage zu „verbessern“ – die Prostitution.“

Morgenstern 1893, S. 70-71

„Den Lohnerhebungen in Berlin und Breslau liegen in erster Linie und in weitaus überwiegender Zahl Angaben der Fabrikanten und der Innungen zu Grunde“. (ebd., S. 72). Die Verfasserin weist darauf hin, dass die Daten wohl eher zu positiv dargestellt wurden. Wir können also davon ausgehen, dass es in der Regel schlimmer war. Ein wahrer Teufelskreis wird hier beschrieben. Eine Welt, in der das andauernde Prekariat zwangsläufig zu Verelendung führen muss.

Wenn dann noch Kinder mit ins Spiel kommen, verschärft sich die Lage; die Frauen können dann oft nur noch Heimarbeit annehmen. In einigen schlesischen Orten betrug der Tageslohn beim Filetnähen (dabei werden Blumen auf netzartiges Gewebe, das sog. Filet, genäht) 1889 bei 14-stündiger Arbeitszeit nur noch 35 Pfennig. Zitiert wird eine Zuschrift an den Oberschlesischen Anzeiger im Juni 1888, den ich hier widergebe:

„Das Filetnähen ist in hiesiger Gegend zu einem traurigen Uebelstande geworden, Der Beschäftigung damit huldigen nicht selten alle Glieder einer Familie, selbst Kinder von 5 – 6 Jahren, besonders unter der arbeitenden Klasse. Die Arbeit beginnt früh bei Licht und endet nachts nach 12 Uhr. Kurzsichtigkeit, Brustleiden, Verkrümmung des Rückgrates sind die traurigen Folgen der übernächtigen Anstrengung. Die Lehrer berichten, dass die Mädchen schief werden, die Knaben in der Schule nicht sitzen können. Die häuslichen Schularbeiten werden vernachlässigt und der Geist der Kinder wird abgestumpft.“

Morgenstern 1893, S. 53

Und noch ein Beispiel:

„Die dritte Industrie in diesem traurigen Bunde ist die der Zündholzschachteln. Für das Tausend zahlt der Fabrikant 60 Pfg., mit Etiketts versehen 70 Pfg. Spahn und Papier wird geliefert, den Kleister müssen die Arbeiter geben, für 2000 Schachteln ein Pfund Gerstenmehl zu 10 Pfg. Eine Mutter mit drei Kindern kann wöchentlich 3-4000 Schwedenschachteln fertig stellen, oft zieht sie noch andere als ihre eigenen Kinder dazu heran, und so beläuft sich der Nebenverdienst in der Woche bei angespanntester Arbeit auf 1,80 – 2,40 Mk., ein Jammerlohn, der nur erreicht wird, wenn die Kleinen – sogar schon Kinder von 5 Jahren an – früh um 4 Uhr aus dem Bett müssen, um vor der Schule ihr Pensum abzuarbeiten und nach der Schule bis 8 oder 9 Uhr zu arbeiten. Der Fabrikinspektor nennt die Schulzeit – wenn sie innegehalten wird – die einzige Erholungspause der Kinder und führt an, dass der Vater sich leider gar oft, da die Seinigen ja durch diesen Nebenverdienst nicht direkt verhungern können, berechtigt fühlt, seinen Lohn im nächsten Wirtshaus zu vergeuden.“

Morgenstern 1893, S. 55

Aus heutiger Sicht sind das kaum mehr vorstellbare Verhältnisse – wobei wir leider davon ausgehen müssen, dass es sie in ähnlicher Form noch heute in manchen Ländern gibt, aus denen auch wir unsere Waren beziehen. Die Zahlen zum Verdienst zeigen jedenfalls die „andere“ Seite der Putzmacherei, namentlich die, bei der es sich um eine fabrikmäßig betriebene industrielle Arbeit handelte, die in ihrer sozialen und wirtschaftlicher Auswirkung denen vieler anderer Berufe in keiner Weise nachstand.

© Copyright Anno Stockem 2024

Wenn Ihnen der Beitrag gefallen hat, melden Sie sich gerne zum Newsletter von ansto.de an!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.