Fundstücke Putzmacherei und Putzmacherin

Berliner Arbeits-Verhältnisse 1846

Foto von Berlin ca. 1840
Foto von Berlin ca. 1840

Im Jahr 1846 erschien in Leipzig das Werk „Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung“, von Friedrich Sass. Ja, die Putzmacherinnen kommen natürlich auch darin vor – zunächst aber mag hier der Autor interessieren. Die Suche nach weiteren Informationen gestaltet sich schwierig. Eine amüsante Erwähnung findet er bei John Henry Mackay, der ihn zu den „Freien“, den kritischen Geistern der Zeit zählte und wie folgt charakterisierte:

„Körperlich, wenn auch nicht geistig, überragte alle anderen der Journalist Friedrich Sass, ein geborener Lübecker, wegen seiner sechs Fuss hohen Gestalt meist „der lange Sass“ genannt. Er war ein fähiger Journalist und gab durch eine Broschüre, die er unter dem lange festgehaltenen Pseudonym Alexander Soltwedel schrieb, den ersten Anlass zur Bildung einer deutschen Flotte. Auch war er eine Zeit lang der Herausgeber des „Pilot“. Sein umfangreichstes Werk, das er 1846 veröffentlichte, behandelt „Berlin“, und ist nicht ohne Werth, beweist aber, wie wenig er sich Mühe gegeben hatte, in den geistigen Gedankenkreis seiner Hippel’schen Freunde einzudringen. Aber nicht dies Werk, sondern seine gelungenen Gassenhauer, wie die „Lieder“ auf den Bürgermeister Tschech und den Mörder Kühnapfel, die von ihm herrühren sollen, haben sich ihrer drolligen Ungenirtheit wegen In dem Gedächtnisse der Zeit erhalten. Der „lange Sass“, auch „Literarchos“ genannt, war ständiger Kaffeegast bei Stehely und verkehrte viel mit den „Freien“, für die er eben sowohl die Zielscheibe des Witzes abgab, wie später für den „Kladderadatsch‘. … „

Mackay, John Henry: Max Stirner. Sein Leben und sein Werk. Berlin 1898, S. 75

Er ist ebenfalls zu finden als Verfasser von „Hanseatische Briefe“, in: Der Freihafen, Altona, Jahrgang 1839, und als Poet in der „Abendzeitung“, Grimma, vom 12.09.1839, mit dem 17-strophigen Gedicht „Der Leu zu Braunschweig. Sass (1817-18 51) war Mitarbeiter im „Telegraph für Deutschland„, einer kritischen Zeitung, die seit 1838 von Julius Campe in Hamburg verlegt wurde. Insgesamt war er wohl ein kritischer Geist, der auch unter dem Pseudnym „Alexander Soltwedel“ veröffentlichte. Am 19. November 1851 erschien in „Hamburger literarische und kritische Blätter“ ein Nachruf durch J. Henning:

„Soeben vernehmen wir die schmerzliche Kunde, daß Friedrich Saß in Brüssel an einem bösartigen Typhus plötzlich gestorben ist. Saß, der zunächst unter dem Namen Alexander Soltwedel in der literarischen Welt auftrat, war 1817 zu Lübeck geboren und studirte in Kiel und Rostock Medicin. Er schrieb Beiträge für die „Dresdener Abendzeitung (von Th. Hell), die „Leipziger Eisenbahn (von Wiest), „Europa“ und „Freihafen“. 1841 übernahm er in Hamburg für Gutzkow die Redaktion des „Telegraphen“. Darauf lebte er in Leipzig (wo er den von Mundt begründeten „Piloten“ übernahm), später längere Zeit in Berlin, Paris, London und zuletzt in Brüssel.- Manches zarte und tief empfundene Gedicht von Saß findet sich in Zeitschriften zerstreut; ich selbst besitze mehrere derselben in handschriftlicher Mittheilung. Der Abdruck des nachstehenden in diesen Blättern möge dem Frühverstorbenen ein ehrenvolles Denkmal sein!“

Henning, J.: Zur Erinnerung an Frierich Saß. Hamburger literarische und kritische Blätter vom 19.11.1851, S. 725

In „Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung“ schreibt er im ersten Kapitel über die Wohnungssituation. Er staffelt die Wohn(un)möglichkeiten von der Obdachlosigkeit über die Familienhäuser (=Armenhäuser), die vermieteten Schlafstätten und möblierten Zimmer bis zu den „normalen“ Familienwohnungen. Grisetten – und dazu zählt er auch die Putzmacherinnen – gehörten zu den Bewohnerinnen der möblierten Zimmer, waren also auf der sozialen Wohnungsleiter rel. gut positioniert:

„Berlin ist gewiß die einzige Stadt Deutschlands, in welche Parisische Lebenselemente sich geltend machen. Die Grisettenwirtschaft greift hier immer mehr um sich, eine Auflösung der alten Sittlichkeitsbegriffe liegt ihr zugrunde … Meistentheils sind sie den ganzen Tag über in Putzmagazinen, beim Nähtische usw. beschäftigt … Die jungen Mädchen, oft mit dem schärfsten Geiste ausgestattet und mit einem Herzen voll der weichsten Gefühle stehen zum großen Theile außerhalb aller Familienbande, oder die Ihrigen sind so zerrüttet und widerlich, daß sie, getragen vom Schönheitssinne der Jugend, sie absichtlich meiden.“

Sass, Friedrich: Berlin in seiner neuesten Zeit und Entwicklung. Leipzig 1846, S. 74/75

Sass untersucht in einem späteren Kapitel die Arbeitsverhältnisse der Berliner; er unterscheidet dabei das „Bürgerliche Gewerbe“ von der „Faktorei-Arbeit“. Ersteres umfasst im Prinzip die Handwerksberufe, letztere die in Fabriken (oder Heimarbeit? Das wird in der folgenden Auflistung vermengt) erbrachte Arbeit, die als international austauschbar und konkurrierend angenommen wird.

Der internationale Vergleich der Faktorei-Arbeit erfolgt zwischen Berlin und Paris. Hier finden wir dann bei den weiblichen Arbeiten auch die Putzmacherin bzw. Modistin wieder. Bemerkenswert ist übrigens, dass er seine Quellen im Fließtext genau angibt. Ebenso wird nicht nur der Lohn pro Tag, sondern auch die „Schlechte Zeit“ benannt, in der die Arbeiterinnen faktisch aufgrund fehlender Nachfrage arbeitslos waren. Der Lohn in den guten Monaten musste also auch für die schlechte Zeit ausreichen.

Tabelle weiblicher Arbeiten in Berlin 1846 (Sass), Teil 1
Tabelle weiblicher Arbeiten in Berlin 1846 (Sass), Teil 2
Tabelle weiblicher Arbeiten in Berlin 1846 (Sass), Teil 3
Tabelle weiblicher Arbeiten in Berlin 1846 (Sass), Teil 4
Tabelle weiblicher Arbeiten in Berlin 1846; aus: Friedrich Sass 1846, S. 268-271

Er schlussfolgert: „In diesen Zahlen liegt eine fürchterliche Wahrheit, denn kein anderes Resultat läßt sich aus ihnen gewinnen, als dieses: daß im Durchschnitt der Lohn für die weiblichen Arbeiten in Berlin noch niedriger steht, als in Paris. In diesen Zahlenreihen ist denn auch der sichere Schlüssel für die Entartungen und Verirrungen des weiblichen Geschlechts in Berlin gefunden. Denn in dem niedrigen Lohne muß wenigstens eben so häufig, als in Faulheit und Leichtsinn, der Ursprung jener massenhaften Berliner Prostitution gesucht werden …“ (S. 272)

Für die Modistinnen kann man die schlechtere Lage in Berlin durchaus nachvollziehen, selbst unter Berücksichtigung der kürzeren „Schlechten Zeit“. In Berlin verdienen sie durchschnittlich (3+10)/2 = 6,5 Silbergroschen/Tag. Das sind 6,5 SG x 10 Monate zu je 26 Tagen (30-4 Sonntage) = 1.690 SG; in Paris sind es bei 10 SG x 8 Monate zu 26 Tagen = 2080 SG, also fast 20% mehr.

Erstaunlich finde ich, dass Sass in dieser Liste auch die Häklerinnen aufführt: „Diese Tätigkeit wird meistens von höheren Damen des Taschengeldes wegen betrieben“. Warum er das Taschengeld höherer Damen hier mit den katastrophalen Verdiensten prekär beschäftigter Frauen und Kinder vergleicht, bleibt mir dabei aber verschlossen.

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