Die „Allgemeine Muster-Zeitung“ ist ein Quell interessanter Hinweise auf die Putzmacherei des 19. Jahrhunderts. Sie heißt aber nicht umsonst „Album für weibliche Arbeiten und Moden“. Im Jahrgang 1855, der in meinem Besitz ist, fand ich jetzt Hinweise auf die „Potischomanie“. Eine moderne Erklärung dazu ist allerdings nicht zu finden. Der Lektüre der weiter unten genannten Quellen nach handelt es sich dabei um eine Technik, bei der Glas mit ausgeschnittenen Bildchen (ähnlich Glanzbildern) hinterklebt wird. Der Effekt ist ähnlich der Hinterglasmalerei. Die nicht von den Bildern beklebte Fläche wird dann mit Farbe bestrichen. Entstehen sollten Objekte, die chinesischem Porzellan, etruskischen Vasen usw. ähneln. Ich vermute, dass der Begriff eine Verballhornung des Französischen ist: vielleicht „Pots au chinois“?
In der Allgemeinen Muster-Zeitung war die Potischomanie jedenfalls mehrfach Thema. In Heft Nr. 1/1855 widmet sich die Korrespondentin in ihrer „Correspondenz aus Paris“, die an die prototypische „Helene“ gerichtet ist, erneut der Potischomanie und verweist auf ihre letzten Hinweise seit August 1854. Sie nennt als Bezugsquelle für das benötigte Material eine Adresse in Paris, wobei dann die Red(aktion) unten mit Sternchen eine Anmerkung beifügt:
„Die Hrn. Rominger und Authenrieth in Stuttgart versende jetzt auch solche Kostchen im Preis von 5 fl. und höher, je größer die Vasen gewünscht werden“.
Die Serie der Ratschläge setzt sich in Heft 4/1855 mit einem „siebten Artikel“ zur Potischomanie fort. Darin wird u.a. erwähnt, dass erst jetzt „die deutschen Fabrikanten die erforderlichen Requisiten zur Ausübung der Potischomanie …. anzubieten im Stande sind. So liefern z.B. Berlin, Wien, Frankfurt a.M. seit kurzem buntbedruckte Potischbogen, die indessen die Vollkommenheit des Pariser Buntdruckes noch nicht erreicht haben…“ Offensichtlich entwickelte sich eine ganze Zubehör-Industrie. Potischformen sind auch Thema auf dem zur Ausgabe gehörenden Musterblatt und werden detailliert beschrieben.
In Nr. 5/1855 findet sich die Fortsetzung des „siebten Artikel“, der Schluss der Reihe (bzw. des „siebten Artikel“ erfolgte dann im Heft 6/1855.
Der bereits oben erwähnte Johannes Rominger hat 1854 eine Broschüre zur Potischomanie verfasst, in der er auf die „Allgemeine Muster-Zeitung“ und weitere ungenannte französische Quellen verweist. Das Dokument füge ich hier zum Download an.
Zu Johannes Rominger (1815-1891) ist die Quellenlage deutlich besser als zur Potischomanie. Im Stuttgarter Adressbuch von 1883 wird er als Inhaber einer „Glas-, Porzellan-, chem.-pharm. Utensilienhandlung“ genannt. Das passt insofern, als es bei der Potischomanie um die Verschönerung von Glaswaren ging, die – ebenso wie die benötigten Chemikalien – über seine Firma zu beziehen waren.
Johannes Rominger gründete 1878 die „Stiftung Krippe und Kindergarten Rominger“, die noch heute existiert:
„1878 gründete der Kaufmann Johannes Rominger (1815-1891) die Stiftung Krippe und Kindergarten Rominger mit dem Zweck, den vielen verwahrlosten Buben und Mädchen im Stadtteil Heslach eine Heimat zu geben, zunächst in den Räumen der Möhringer Straße 39, ab September 1884 im neugebauten Haus in der Böheimstraße 58.
Quelle: http://www.romingertagheim.de/pages/geschichte.html
Unter dem Namen Krippe und Kinderpflege Zoar (hebräisch für Zuflucht) wurden hier im Haus Kinder in Obhut genommen, gepflegt und unterwiesen. Ab 1885 war die Böheimstraße auch Asyl für Kinder bis zum 14. Lebensjahr, deren Eltern vorübergehend nicht für sie sorgen konnten. 1892 wurde eine Tageshaushaltsschule eingerichtet, von 1925 bis 1935 befand sich im Haus die Zweigstelle der Volksbücherei.
Schirmherrin der Stiftung war zunächst Königin Olga, danach Herzogin Wera.
Nach dem Tod von Johannes Rominger übernahm 1891 sein Sohn Nathanael bis 1927 den Vorstand. Am 1.10.1936 musste die Stiftung den Namen ändern, seit dem trägt das Haus den Namen Krippe und Kindergarten Rominger.“
Insgesamt kommen mir die Mechanismen der Etablierung eines „Hobbys“, einer „weiblichen Arbeit“, sehr ähnlich heutiger Handarbeitsmoden vor. Auch heute noch werden Moden in Zeitschriften etabliert, Anbieter von Hilfsmaterialien etablieren sich, und einige Zeit ist das jeweilige Thema en vogue – um dann wieder mehr oder weniger in der Vergessenheit zu versinken. Window Color? Makaramee? Erinnern Sie sich selbst…
Bei meiner weiteren Recherche habe ich noch weitere Quellen zur Potischomanie gefunden, die ich hier anfügen möchte.
Zum einen findet sich ein interessanter Verweis in „Pazaurek, Gustav E.: Die Gläser der Empire- und Biedermeierzeit. Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1923“. Das Buch ist in digitaler Form verfügbar (Link). Die kurze und präzise Beschreibung der „Potichomanie“ sei hier zitiert:
Die Potichomanie ist ein Glas-Surrogat für bemaltes Porzellan und besteht darin, daß man aus Papierkupferstichen ausgeschnittene bemalte Figuren auf der Innenseite von Glasschalcn, Vasen, Kugeln usw., selbst Ampeln und Wandkörben, gut aufklebt und die Zwischenräume mit Lackfarbe, besonders weißem Kopalfirnis, ausfüllt. Augsburg hat derartige wenig erfreuliche Arbeiten (namentlich Kästchen) schon seit der Milte des 18. Jahrhunderts gerne gemadit. Das 19. Jahrhundert hat auch vielfach die Kupferstiche ganz weggelassen und besonders Vasen einfach mit naturalistischen Blumenmotiven auf farbig getöntem Hintergrund von innen bemalt; aber auch Becher mit lackgedeckten Chinamotiven in älterer Art (z. B. im Schlesischen Museum für Kunstgewerbe und Altertümer) kommen noch vor. Zwei Vasen mit bunter Ritterromantik in Potichomanie auf weißem Grunde stehen in der Privatsammlung Stiefenhofer in Stuttgart (Augustenstraße 94)
Pazaurek, Gustav E.: Die Gläser der Empire- und Biedermeierzeit. Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1923, S. 248
Der Autor ordnet die Potischomanie in den Gesamtkontext der Hinterglasmalerei ein:
Zum Unterschiede von den äußerlich lackierten, d. h. ölbemalten Gegenständen, bei denen die Malerei den Glascharakter völlig aufhebt, da als Malgrund wie von den Dosenmalern ebenso gut, ja vielfach besser ein anderer Stoff gewählt werden konnte, gibt es zahlreiche, ebenfalls ölbemalte und lackierte Glaserzeugnisse, an denen man allerdings auch keine ungetrübte Freude genießt, die jedoch, da die Farbe auf der Rück- oder Innenseite des Objektes angebracht ist, das Glasmaterial wenigstens nicht ganz paralysieren und in ihrer Malerei wohl auch vielfach widerstandsfähiger sind. Es handelt sich um nichts mehr als um Abwandlungen der seit dem Mittelalter geläufigen, aber in Frankreich 1822 merkwürdiger Weise neu patentierten Hinterglasmalerei und Hinterglasradierung, allerdings mit neuen, vornehm klingenden, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts natürlich dem griechischen oder französischen Sprachschatz entnommenen Namen, die zu den problematischen Material- und Techniksurrogaten — denn etwas anderes sind sie nicht — seltsam kontrastieren: „Potichomanie“, „Diaphanie“, „Chrysodiaphan-Arbeit“, und „Hyalophanie“, wozu noch „Musivische Transparente“ kommen.
Pazaurek, Gustav E.: Die Gläser der Empire- und Biedermeierzeit. Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1923, S. 248
In einem anderen seiner Werke (Pazaurek, Gustav E.: Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart / Berlin 1912) mit seinem wahrhaftig sprechenden Titel erwähnt er die Potischomanie in Nachfolge der Porzellansurrogate des 18. Jh:
„Noch schlimmere Porzellansurrogate waren jene – für Flüssigkeiten ungeeignete – Dekorationsvasen und – zu Kästchen oder Tabatieren montierte – Platten aus farblosem Glase, das mit gemalten und ausgeschnittenen Kupferstichen hinterklebt und dann in den Zwischenräumen weiß hintermalt wurde (Abb.103). Diese Pimpelei aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts geriet später wieder in Vergessenheit, wurde aber hundert Jahre später in Frankreich neuerdings aufgenommen und nach Deutschland importiert und segelte von nun an unter dem hochtrabenden Namen „Potischomanie“. Im Jahr 1854 erschien in Stuttgart sogar ein Lehrbuch dieser Liebhaberkunst, verfaßt von Johannes Rominger“.
Pazaurek, Gustav E.: Guter und schlechter Geschmack im Kunstgewerbe. Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart / Berlin 1912, S. 119-120
Der „Pimpelei“ widmete der Autor ein ganzes Kapitel, der Begriff ist in gewisser Hinsicht zentral für seine Vorstellung einer Geschmacksverirrunhg. „Nicht nur neuwertiges Material, sondern geradzu auch wertlose Abfallstoffe mit Mühe so zusammenzustellen oder zu verarbeiten, dass die Ergebnisse in einiger Entfernung für kunstgewerbliche Arbeiten gehalten werden könnten – das kann man als eine Pimpelei bezeichnen“ (a.a.O., S. 39).
Die zitierte Abbildung Nr. 103 gebe ich hier wieder (a.a.O., S. 119):
Eine literarische Erwähnung der Potischomanie findet sich bei Charlotte Mary Yonge (1823-1901), einer sehr produktiven und erfolgreichen Schriftstellerin des 19. Jh. In „The Daisy Chain, or Aspirations“ findet sich die folgende Szene vom Besuch eines Jahrmarktes (Vanity Fair):
‚Does she mean it?‘ said Flora, turning to Margaret. ‚ Have you converted her? Well done! Then, Ethel, we will get some pretty batiste, and you and Mary shall make some of those nice sun-bonnets, which you really do to perfection.‘
Yonge, Charlotte Mary: The Daisy Chain, or Aspirations. New York, D. Appleton and Comp., 1869, S. 14
‚Thank you. That is a more respectable task than I expected. People may have something worth buying,‘ said Ethel, who, like all the world, felt the influence of Flora’s tact.
‚I mean to study the useful,‘ said Flora. ‚The Cleveland set will be sure to deal in frippery, and I have been looking over Mrs. Hoxton’s stores, where I see quite enough for mere decoration. There are two splendid vases in potichomanie, in an Etruscan pattern, which are coming for me to finish.‘
‚Mrs. Taylor, at Cocksmoor, could do that for you,‘ said Ethel. ‚Her two phials, stuffed with chintz patterns and flour, are quite as original and tasteful.‘
‚Silly work,‘ said Flora, ‚but it makes a fair show.‘
‚ The essence of Vanity Fair,‘ said Ethel.
Weitere Hinweise auf die Potischomanie sind herzlich willkommen!
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