Fundstücke Putzmacherei und Putzmacherin

Eine Pandora-Modepuppe in London 1712

Im Spectator, einer englischen Zeitschrift des frühen 18. Jahrhunderts, fand ich mit Datum des 17. Januar (1712) einen umfassenden Bericht über eine „Pandora“, die aus Paris in London eingetroffen war. Für Kenner und Liebhaber findet sich der Text am Ende des Beitrags.

Pandorra, Modepuppe Anfang des 18. Jahrhunderts
Pandora, Modepuppe Anfang des 18. Jahrhunderts; hier ein Exemplar aus dem Victoria & Albert Museum, London, erläutert von Masha Voyles (https://thatmuse.com/2019/11/08/before-anna-wintour-the-pandora-doll/)

Eine Pandora war eine Modepuppe, die von Paris in die Großstädte der Welt geschickt wurden, damit man dort auch wusste, was in Paris Mode war. Es gab diese Puppen lt. Wikipedia seit dem 14. Jahrhundert, seit 1642 wurden sie „Pandora“ genannt. Es gibt dazu eine ganze Menge Fachliteratur, als Beispiel verweise ich auf das umfangreiche Werk von Juliette Peers: The fashion doll from Bébé Jumeau to Barbie. Oxfor New York 2004. Außerdem hilfreich ist der Aufsatz von Lydia Maria Taylor: Pandora in the Box: Travelling around the World in the Name of Fashion. In: Fashion: Exploring Critical Issues, 2012, S. 3-14. Im Folgenden konzentriere ich mich hier auf den Artikel im „Spectator“.

Der „Spectator“ war eine Zeitschrift, deren erste Serie vom 1. März 1711 bis zum 5. Dezember 1712 existierte. Sie wurde von Richard Steele und Joseph Addison gegründet; insgesamt gab es zunächst sieben Bände, 1714-1715 erfolgte dann eine Fortsetzung (ohne Richard Steele), die in einem achten Band gesammelt wurde. Trotz seiner kurzen Existenz und überschaubaren Auflage von 3.000 Exemplaren wurde er viel gelesen und später immer wieder aufgelegt.

Die einzelnen Artikel enthalten zum Teil moralische Diskurse, historische und philosophische Betrachtungen, politische Kommentare und immer wieder Einblicke in das aktuelle Geschehen. Die Artikel sind manchmal namentlich gezeichnet, in der Regel aber (wohl) verfasst vom „Spectator“; abgedruckt sind auch (fiktive?) Briefe an den Herausgeber bzw. „Spectator“; dadurch entsteht die Illusion eines lebhaften Gesprächs und Austausches zwischen Zeitschrift und Leserschaft.

Im Artikel vom 17. Januar 1712 berichtet der „Spectator“ zunächst davon, dass vor dem Krieg einmal im Monat Modepuppen von Paris nach London kamen. Gemeint war wohl der spanische Erbfolgekrieg, der von 1701 und 1714 dauerte und offensichtlich noch nicht beendet war. Veranlasst bzw. bestellt würden solche Puppen durch Londoner Putzmacherinnen, und das habe selbst während des Krieges funktioniert:

„… our ladies had all their Fashions from thence ; which the Milliners took care to furnish them with by means of a Jointed Baby, that came regularly over, once a Month, habited after the manner of the most Eminent Toasts in Paris.“

The Spectator, London 1712, No. 277, S.115

Es folgen zwei Briefe, die nun über die erfreuliche Ankunft einer Modepuppe berichten. Im ersten Brief berichtet eine Dame namens Terraminta, dass sie in der Kirche (!) gehört habe, dass eine Modepuppe in London eingetroffen sei. Sie – „so great a Lover whatever is French“ – habe sich umgehend zur entsprechenden Putzmacherin begeben, um festzustellen, dass die Puppe gerade an eine vornehme Dame ausgeliehen sei. Sie sei dann zurückgekommen, und „had a full View of the dear Moppet from head to Foot“. Ihre Begeisterung bricht sich Bahn:

„You cannot imagine, worthy Sir, how ridiculously I find we have all been trussed up during the war, and how infinitely the French-dress excells ours.“

The Spectator, London 1712, No. 277, S.117

Im Folgenden gibt sie dann eine enthusiastische Beschreibung der Kleidung in all ihren Details. Den Anlass ihres Briefes begründet sie wie folgt:

„I thought fit, however, to give you this Notice, that you may not be surprized at my appearing a la mode de Paris on the next Birth-Night.“

The Spectator, London 1712, No. 277, S.117

Kaum ist der Brief eingetroffen, erhält der Autor einen weiteren, diesmal von der Modistin selbst, „Betty Cross-Stitch“; der Name „Kreuzstich“ kann eigentlich nur ironisch gewählt sein. Sie lädt ihn als Modefachmann ein, die Modepuppe noch vor der öffentlichen Präsentation anzuschauen. Ein exklusiver „Pre-View“ also! Zur Puppe selbst schreibt sie:

„I have taken the utmost Care to have her dressed by the most celebrated Tyre-women and Mantua-makers in Paris, and do not find that I have any reason to be sorry for the Expence I have been at in her Cloaths and Importation“

The Spectator, London 1712, No. 277, S.117

Hier ist die Putzmacherin also eine aktive Unternehmerin, die keine Kosten scheut, um aus Paris ein beeindruckendes Werbemittel zu beschaffen!

Der Autor begibt sich richtig auch zu Miss Cross-Stitch und beschreibt die Puppe gebührend und kritisch. Die Besonderheiten des Strumpfbandes allerdings möchte er aus Respekt nicht kommentieren, da es sich ja unter dem Rock befinde. Die Putzmacherin erzählt ihm dann noch, dass sie mit Hilfe des benachbarten Uhrmachers eine sich selbst bewegende Puppe entwickeln möchte, und sie hoffe auf des Besuchers Unterstützung – der sie aber vorab nicht zusichern wollte und das Haus verließ.

Hier nun der Original-Text:

© Copyright Anno Stockem 2024

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