Putzmacherei und Putzmacherin

Gucke allen hübschen Mädchen unter die Hüte …

Das Zitat stammt aus dem Jahr 1850, und sofort fragt man sich, wie denn damals die Hutmode ausgesehen haben mag. Im hervorragenden Katalog zur Ausstellung „Hauptsache. Hüten, Hauben, Hip-Hop-Caps“ finden wir folgenden Hinweis:

„In den späten 1840er Jahren […] gerieten die Hutkrempen immer kürzer, wodurch die Gesichter der Damen wieder mehr zur Geltung kamen“.

Hauptsache. Hüten, Hauben, Hip-Hop-Caps. München 2022, S. 179

Nach langer Suche habe ich einen Modestich in der Pariser Modezeitschrift „Les Modes Parisiennes“ vom August 1850 gefunden. Das war dann zwar eine Mode, die Deutschland erst im Herbst erreicht haben dürfte, und für den Autor des Zitats war sicher eher das Jahr 1849 modisch relevant (wenn überhaupt). Wie das „unter die Hüte gucken“ dann wohl gemeint war? Später dazu mehr.

Modestich aus Les Modes Parisiennes, vom 01.08.1850
Modestich aus Les Modes Parisiennes, vom 01. August 1850

Das Zitat ist folgendem Werk entnommen: „Eine Berliner Grisette. Posse mit Gesang“, und angeblich „Frei nach dem Französischen“. Verfasst hat diese Posse Otto Stotz, der heute weitaus weniger bekannt ist als der Komponist, der die Musik dazu geschrieben hat: Albert Lortzing. Eines der Lieder hat – wohl auch aufgrund seines Sujets – eine gewisse Berühmtheit erlangt, das „Weißbierlied“, von dem es sogar eine Aufname gibt. Es singt Herrmann Prey, das Kölner Rundfunkorchester spielt.

Titelblatt von "Eine Berliner Grisette" von Otto Stotz 1850
Titelblatt von „Eine Berliner Grisette“ von Otto Stotz 1850

Heinrich Otto Stotz war Schauspieler, Autor und Intendant von Schwänken, Possen, und – sagen wir mal: einfacheren Stücken. Das Porträtbild, das man von ihm findet, zeigt ihn in einer seiner Rollen; er spielte auch selbst in der „Berliner Grisette“ mit.

Der Schauspieler Otto Schotz ca. 1850
Der Schauspieler Otto Stotz ca. 1850

Dazu ein Auszug aus der Magdeburgischen Zeitung vom 18.09.1850:

„Die Herren Ascher und Stotz vom Friedrich-Wilhelmst. Theater in Berlin […] beschlossen am 15. ihr Gastspiel mit: „Er muß nach Magdeburg“ und „Eine Berliner Grisette“. […] Herr Stotz war sowohl als Lampe im ersten Stücke, wie als Kümmelmann in der von ihm verfaßten „Berliner Grisette“, zu der Lortzing eine ungemein gefällige und melodiöse Musik geschrieben hat, ganz an seinem Platz, spielte mit vielem Humor und bester Wirkung. […] Beide Stücke werden gewiß noch öfter das Publikum unterhalten, wenn dasselbe sich erst gewöhnt haben wird, nicht in jedem Worte eine politische Anspielung zu finden.“ ((gezeichnet mit „G.W.))

Magdeburgische Zeitung vom 18.09.1850

Eine politische Anspielung – könnte das die für uns unverständliche Formulierung „unter die Hüte schauen“ erklären? Oder ist es eben doch wörtlich zu nehmen? Das Rätsel bleibt …

Über Albert Lortzing findet sich eine ganze Menge an Material, auch wenn es meistens um seine großen Werke geht wie „Zar und Zimmermann“, „Casanova“, „Undine“ usw.

Fotografisches Porträt von Albert Lortzing
Fotografisches Porträt von Albert Lortzing

In Bezug auf die „Berliner Grisette finden wir folgende Zeitungsnotiz in „Signale für die musikalische Welt“:

„Albert Lortzing, bekanntlich seit einiger Zeit Musikdirector am Friedrich-Wilhelmstädtischen Theater in Berlin, hat für dasselbe ein Vaudeville „Eine Berliner Grisette“ nach einem Texte des Schauspielers Stotz componirt, welches mit großem Beifall gegeben worden ist. Seine Musik wird als charakteristisch und durch eine Anzahl allerliebster Complets anziehend geschildert.“

Signale für die musikalische Welt. Leipzig, Juni 1850. S. 261

Die „Posse“ wurde zum „Vaudeville“… Es scheint sich um einen Bericht der Premiere zu handeln, und das Zitat zum Schauspieler Stotz oben passt dazu hervorragend; das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater reiste mit der Inszenierung durch Deutschland, – und eben auch nach Magdeburg. Die bei Wikipedia zitierte Schilderung eines Theaterbesuchs von Gottfried Keller möchte ich hier meinen Leser*innen nicht vorenthalten:

„Es sind diesen Sommer schon mehrere Wiener Komiker hier als Gäste aufgetreten und ich gehe deswegen auch in das Friedrich-Wilhelmstädtische Theater und vergnüge mich alldort in allen möglichen Dummheiten der Wienerpossen. […] Unabhängig vom Text der Stücke werden mit allen möglichen Organen Possen, Schlingeleien und Faxen ausgeführt, welche einen unendlichen Jubel erregen und alt und jung aufheitern; bald ist es ein Bein, bald der ganze Körper, bald nur das Gesicht oder gar ein einzelner Ton, gleich dem Krähen eines jungen Hahnes, was unser Lachen erregt. Diese Wienerpossen sind sehr bedeutsame und wichtige Vorboten einer neuen Komödie. Ich möchte sie fast den Zuständen des englischen Theaters vor Shakespeare vergleichen. […] Ein vortreffliches Element sind auch die Couplets, welche von den Hauptpersonen gesungen werden und gewöhnlich politische oder soziale Anspielungen enthalten. In halb wehmütiger, halb mutwilliger Melodie, begleitet von den wunderlichsten Gesten und Sprüngen, werden diese anzüglichen Verse gesungen.“

Gottfried Keller an Hermann Hettner 16. September 1850, zitiert nach G. Keller: Briefe Tagebücher Aufsätze, Atlantis Verlag Zürich o. J., S. 175–176

Doch nun endlich – worum geht es eigentlich? Es ist nicht ganz einfach, die perfekte Verwirrung einigermaßen kompakt zusammenzufassen.

Friedrich, ein lebenslustiger Student, lebt mit seinem braven und soliden Freund Hector in Berlin. Er hat ein Verhältnis mit der Putzmacherin Charlotte, der Hector wohl die Bücher führt und in die er heimlich verliebt ist. Friedrich wird finanziell versorgt von seinem Onkel Kümmelmann, der in der Povinz lebt und einfach gestrickt zu seiin scheint. Dieser Onkel ist der Eskapaden seines Neffen überdrüssig und will ihn mit seiner Tochter Amalie verheiraten; er kündigt an, dafür nach Berlin zu kommen.

Das ist natürlich nicht im Sinne Friedrichs, der sich justament in eine schöne junge Frau verliebt hat, die begleitet wurde von einem provinziell aussehenden älteren Herrn. Man ahnt es schon: das war natürlich Amalie und ihr Vater, der Onkel Kümmelmann.

Charlotte, die Putzmacherin, hat ihrerseits auch einen neuen Verehrer, der ihr als „der edle, verbannte Pole Kümmelinsky“ einen Brief schreibt. Der Brief wird bekannt; Charlotte und Friedrich erklären aber gegenseitig ihre Liebe, Friedrich bestärkt Charlotte gegenüber, dass er ihr sein Eheversprechen gegeben hat.

Trotzdem hat Friedrich ein Rendez-vous mit seiner neuen Angebeteten; er nutzt dabei allerdings den Namen von Hector; dieser muss nun dem Onkel und auch Amalie gegenüber den Neffen spielen. Amalie ist nicht begeistert von ihrem künftigen Ehemann, will aber ihrem Vater gegenüber gehorsam sein. Sie hat ein schlechtes Gewissen wegen ihres Rendez-vous mit dem unbekannten Verehrer (Friedrich, unter dem Decknamen Hectors), in den sie sich ebenfalls verliebt hat.

Es gibt nun noch ein paar Wendungen, in denen auch noch Geld eine Rolle spielt – Kümmelmann bezahlt vermeintliche Spielschulden Friedrichs – , am Ende aber wird (fast) alles gut. Friedrich bekommt Amalie (weil Charlotte ihn freigibt). Kümmelinsky ist natürlich Kümmelmann, der sich in die angeblich so lotterhafte Putzmacherin verguckt hatte und den Unsinn seines Verhaltens einsieht. Hector wiederum gesteht Charlotte seine Liebe, die ihn wohl auch akzeptiert (das bleibt etwas unklar). Und Kümmelmann bietet an, Charlotte „ein kleines Magazin“ einzurichten, was dann aber Friedrich übernehmen will, vermutlich als eine Art Sühne dafür, dass er nun eine andere heiraten wird.

Was für ein Durcheinander! Aber Hauptsache, alles geht gut aus. Im Stück gibt es verschiedene Lieder, als Solo-Vortrag, Terzett, Couplet usw. Darunter findet sich dann auch das oben erwähnte „Weißbierlied“, das ich zum Schluss hier noch anfüge. Es wird natürlich von Kümmelmann gesungen:

Trinke Weißbier, liebe Jugend,
Höre achtsam mein Gebot,
Dann erreicht ihr jene Tugend,
Die dem guten Bürger Noth.
Hätten doch nur die Franzosen
Dies Getränk gekostet schon,
Wer keen Unglück zugestoßen
Kam gar keene Revolution.

Sitzt man nach des Tages Hitze,
Schmachtet so ’ne Weiße an,
Es ist erst der Mensch was nütze,
Wenn er einen Zug gethan.
Mögen Völker revoltieren,
Mag die Welt zugrunde geh’n,
I das soll mich nicht geniren
Schmeckt die Weiße doch so schön.

Führt ein schlanker Lieutenante
Mir mein Weibchen auf den Ball,
I das ist ja ganz charmante,
Spar ich mir dadurch die Qual.
Trink mein Glas in vollen Zügen
Denk gemüthlich hinterm Tisch:
Hast Lowiseken Vergnügen –
Schmeckst du prächtig! Gott! wie frisch!

Da Capo

Porter ist nen schwer Getränk
Bairisch Bier geht ins Geblüth.
Lob ich mir die Weißbierschenk,
Weißbier, dir weih ich mein Lied.
Läuft der Schaum ooch manchmal über
Kommt ‘ne Gärung mit Gewalt –
Doch das allens geht vorüber –
Und der Aufstand setzt sich bald.

Wer ich gar ein Hochgestellter
Und ich redte ooch mit drein,
Oder ein Beportefeullter,
Ach wie würd ich pfiffig sein.
Ich würd‘ ein Gebot erlassen:
Keener tränke mir noch Wein,
Ganz Berlin mit Plätz‘ und Straßen,
Müßt ’ne Weißbierkneipe sein.

Stotz, Otto: Eine Berliner Grisette. Als Manuscript gedruckt. Berlin 1850. S. 24-25

Ein paar Anmerkungen noch zu diesem Lied. Spätere Fassungen haben etwas vom „Berlinern“ herausgenommen und den Text etwas geglättet – ich habe hier die Originalfassung zitiert. In der dritten Strophe wird schön deutlich, dass Kümmelmann viel zu träge für ein Verhältnis mit Charlotte ist – und sich viel mehr an einem Weißbier erfreut als an einer solchen Verbindung. Ein „Beportefeullter“ ist wohl eigentlich ein „Beportefeuilleter“, jemand mit einem dicken „Portefeuille“, einer gut gefüllten Geldbörse, kurz: ein wohlhabender Mann. Einige politische Anspielungen sind natürlich auch enthalten, von der durch Weißbier verhinderten Revolution (= Biederkeit verhindert politische Aufklärung in Deutschland) bis zur Gleichsetzung von Aufstand mit, nun ja, Gefurze…

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