Bevor Theodor Fontane als Romanschriftsteller berühmt wurde, arbeitete er jahrelang als Redakteur – unter anderem für die „Neue Preußische Zeitung„, auch „Kreuzeitung“ genannt. Das Blatt war einerseits sehr konservativ und königs- bzw. später kaisertreu, informierte aber auch – wenngleich kommentarlos – über die Standpunkte der anderen politischen Kräfte. Kreuzzeitung hieß sie wegen des im Titel prominent platzierten „Eisernen Kreuz“, das ein Symbol der sog. Befreiungskriege 1813 war und als Zeichen vaterländischer Gesinnung galt.
Fontane schrieb zwischen 1860 und 1870 sogenannte „unechte Korrespondenzen“. Das waren im Prinzip Bearbeitungen von Berichten anderer (in- und ausländischer) Zeitungen bzw. Korrespondenzbüros. Es handelte sich letztlich um eine Art Zweitverwertung vorhandener Inhalte, die aber so aussah, als ob die Korrespondenten aus eigener Anschauung berichteten.
Fontane hatte von 1855-1859 in London gelebt und war mit den dortigen Verhältnissen sehr gut vertraut. Daher dürfte es ihm ein leichtes gewesen sein, echt wirkende Korrespondenzartikel für die Kreuzzeitung zu verfassen. Zum Thema „Putzmacherin“ habe ich einen (nicht namentlich gezeichneten) Beitrag von ihm gefunden, erschienen in Nr. 159 vom 11. Juli 1863. Er nimmt den von den Gazetten aufgegriffenen Tod der Putzmacherin Anna Wolkey zum Anlass, die Bigotterie der Londoner Gesellschaft zu kommentieren. Er verwendet den Begriff „Mitleids-Paroxysmus“, der das Verhalten der Londoner Gesellschaft ziemlich präzise beschreibt. Ich zitiere den Duden:
Paroxysmus:
* anfallartiges Auftreten einer Krankheitserscheinung; anfallartige starke Steigerung bestehender Beschwerden
* aufs Höchste gesteigerte Tätigkeit eines Vulkans
Fontane selbst beschreibt diesen Paroxysmus als eine Art moralische Empörungswelle, bei der sich die Presse sensationslustig aufregt, die Öffentlichkeit sich entsetzt – und nach einer Weile alles wieder vorbei ist und sich nichts ändert.
Anna Wolkey war als Putzmacherin in einem großen Londoner Etablissement beschäftigt, wo sie auch „wohnen“ konnte. Sie starb aufgrund der katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen, die in Folge aufgedeckt wurden. Der Fall machte einiges Aufsehen, die genaueren Umstände wurden untersucht und an höchster Stelle diskutiert. Fontane schließt mit einem bitteren Resümee: „schon jetzt verlautet es hier und da (und ein nachträglicher Bericht bestätigt es), daß es viele tausend luft- und lichtloser Löcher gibt, in denen trotz dieser ganzen Entrüstungs-Komödie alles beim alten bleiben und fortgelebt und fortgestorben werden wird wie bisher.“
Zur Not der Putzmacherinnen 1843 habe ich ja bereits einen Artikel verfasst; interessant, dass Fontane hier den „Song of the shirt“ zitiert, der 1863 ja schon 20 Jahre alt war. Er schreibt mit bitterer Ironie, dass der Nähterinnen-Enthusiasmus […] die englische Literatur um zwei, in ihrer Art ausgezeichnete Gedichte bereicherte: „Das Lied vom Hemde“ (the song of the shirt) und „Die Seufzerbrücke“.“
Den komplette Artikel habe ich hier zum Nachlesen eingefügt (der besseren Lesbarkeit halber mit zusätzlichen Absätzen):
Anna Wolkley. Einiges über black-holes in London.
Die alte Komödie
London, Ende Juni
„Seit acht Tagen hat London mal wieder einen jener alle 5 oder 10 Jahre wiederkehrenden Mitleids-Paroxysmen, die eine Woche andauern, der Times die Pflicht auflegen, einige 20 bis 30 Pros und Contras zu drucken, und welche damit schließen, daß alles beim alten bleibt. Mal sind es die Armenschulen, mal die Fabrikkinder, mal die „unglücklichen Mädchen“ (wie zart!), die beiläufig bemerkt immer irish girls oder french women sind; mal die Greenwich-Pensionäre, die hungern müssen, nachdem sie Englands siegreiche Schlachten geschlagen; mal die Hochschotten, die ausgekauft und infolge immer wachsender Not über das große Wasser getrieben werden.
Der Mitleids-Paroxysmus, der in diesem Augenblick spielt, ist eigentlich nur eine zweite Ausführung und erinnert lebhaft an den Nähterinnen-Enthusiasmus, der dem großen outcry über die bittre Not der needle-women, besonders der Hemdennäherinnen, folgte und der (im Gegensatz zu anderen fits oder Anfällen der Art) nie vergessen werden wird, weil er die englische Literatur um zwei, in ihrer Art ausgezeichnete Gedichte bereicherte: „Das Lied vom Hemde“ (the song of the shirt) und „Die Seufzerbrücke“. Beide von Thomas Hood und beide von Freiligrath ganz vorzüglich übersetzt (London 1847). Es handelt sich diesmal wieder um Nähterinnen, aber um eine andere Unter-Abteilung, um die Rubrik „Putzmacherin“ oder milliner.
Die Geschichte, die zu diesem neuesten Entrüstungsschrei Veranlassung gegeben hat, ist folgende. In Regent-Street, also ohngefähr unserem „Unter den Linden“ entsprechend, lebt Madame Elise, die Inhaberin eines großen, höchst fashionablen Modegeschäfts.
Putz, Kleider u.s.w., alles wird hier besorgt, was die vornehme Welt für ihre Erscheinung in der Gesellschaft bedarf; Mad. Elise ist die glückliche Gattin eines Mr. Isaacsohn, woraus ich den Schluß ziehe, daß die Wiege des übrigens sehr reich gewordenen Paares nicht zwischen Seine und Loire, sondern auf jenem weiten Sumpf und Sandstrich gestanden hat, wo die Wasser der Netze und Warthe der Oder zuströmen. Also rund heraus — im Posenschen. Mad. Elise, bez. Mr. Isaacsohn beschäftigt mehrere hundert „Young-Ladies“, teils als Kleider-, teils als Putzmacherinnen (dressmakers und milliners). Viele dieser jungen Damen leben auch in dem Etablissement und da Regent Street eine sehr teure Gegend und das Empfangslokal dem Geschäftsmanne die Hauptsache ist, so wohnen die jungen Damen in kleinen Bretterverschlägen, die einige untersuchende Kritiker seitdem so unzart gewesen sind, nicht nur mit Gefängniszellen, sondern mit Särgen zu vergleichen. In solcher Zelle (bez. Sarg) stehen zwei Betten und in jedem Bett schlafen zwei junge Damen, immer abwechselnd eine Kleider- und eine Putzmacherin. Bei Tage, d. h. von 8 Uhr früh bis abends 11, sitzen sie zu 20, 30 oder 40 in gemeinschaftlichen Arbeitslokalen; um 11 gehen sie, nach vierzehnstündiger Arbeit, in den eben beschriebenen Zellen zur Ruhe.
Über die Ventilationsfrage existiert ein Dunkel, und eine unartige Zuschrift an die Times hat das in England furchtbare Wort fallen lassen: „Wie das schwarze Loch in Calcutta“ (like the black hole in Calcutta). Eine dieser jungen Damen nun, eine Miss Anna Wolkley, ist plötzlich gestorben. Ihr Tod hat zu einer Untersuchung geführt, und das Verdikt ist abgegeben worden: „Gestorben höchst wahrscheinlich infolge von zuviel Arbeit und zu wenig frischer Luft.“ Selbst im Parlament hat Lord Shaftesbury (in dessen Ressort diese Fragen fallen) den Vorfall zur Sprache gebracht.
Die Sache ist traurig genug, und wir wünschen den hunderttausend „Anna Wolkleys“ beiderlei Geschlechts, die in den black holes von London leben, daß es anders wäre; aber was dabei verdrießt, das ist die gleisnerische Komödie, die von Seiten der respektablen Leute jedesmal bei solcher Gelegenheit aufgeführt wird. Sie fallen jedesmal und immer wieder und wieder wie vom Monde. Sie sind aufs äußerste überrascht, erstaunt, entsetzt, daß solche Dinge um sie her vorgehen, und dennoch ist das, was dieses Erstaunen hervorruft, in den seltensten Fällen ein Allerschlimmstes. Anna Wolkley ist an schlechter Luft gestorben; aber schon jetzt verlautet es hier und da (und ein nachträglicher Bericht bestätigt es), daß es viele tausend luft- und lichtloser Löcher gibt, in denen trotz dieser ganzen Entrüstungs-Komödie alles beim alten bleiben und fortgelebt und fortgestorben werden wird wie bisher.“
Quelle: Fontane, Theodor: „Eine Zeitungsnummer lebt nur 12 Stunden“: Londoner Korrespondenzen aus Berlin. Ausw. und hrsg. von Heide Streiter-Buscher. Berlin; New York: de Gruyter, 1998, S. 71-74
Im zitierten Text war ein Bild von Regent Street eingefügt, bei dem ich nicht sicher bin, ob es mit der Original-Veröffentlichung etwas zu tun hat; ich habe es oben im Text integriert. Hier noch eine weitere Illustration, wie es in Regent Street Mitte des 19. Jahrhunderts ausgesehen hat:
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